Über den größten Irrglauben -
Dass Platten nur Technik und Überhänge nur Kraft erfordern.
Platten bekommen immer sofort den Stempel "technisch anspruchsvoll" und Überhänge den Stempel "powerful" aufgedrückt. Doch Überhänge rein auf die Kraft zu reduzieren, wäre definitiv zu kurz gedacht!
Der Irrglaube
Auf 8a.nu, der größten Datenbank für Kletterrouten und Routenbewertungen, werden senkrechte Wandklettereien und Platten gerne als technisch anspruchsvoll beschrieben. Niemand würde auf die Idee kommen einer stark überhängenden Route ein überwiegend technisches Anforderungsprofil zuzuordnen. Überhänge reduzieren wir gerne auf ihre physische Komponente und tun dabei oft so, als spiele Klettertechnik dort keine Rolle. Kein Wunder also, dass Frauen, die gewöhnlich mit einem geringeren Kraftniveau auskommen müssen, sich gerne Platten und senkrechten Wänden widmen, um neue Grade zu klettern und Männer, die im Schnitt von Natur aus über mehr Kraft verfügen, sich tendenziell überhängende Routen suchen. Auf den ersten Blick macht das Sinn, doch auf den zweiten Blick komme ich auf eine ganz andere Schlussfolgerung.
Die Klettertechniken auf Platten
Beginnen wir einmal beim Anforderungsprofil einer Platte: Hier dominieren drei Klettertechniken die Bewegung: Präzises Treten, Antreten im Körperschwerpunkt (Antreten im T) und die Körperschwerpunktverschiebung (“Rüber und Rauf”). Wenn man von Platten Muskelkater bekommt, dann höchstens in den Waden und auf den Schienbeinen, seltenst aber im Oberkörper. Wir können nur schwerlich einen schwierigen “Aufsteher” mit der Kraft aus dem Bizeps kompensieren. Entweder können wir präzise treten und kennen alle Tricks, um unsere Hüfte über den Standfuß zu schieben oder wir haben keine Chance, die Stelle zu lösen. Je steiler allerdings die Route wird, desto besser können wir mangelnde Technik mit einem Übermaß an Kraft im Oberkörper kompensieren. Schon in der Vertikalen kann man darauf verzichten, die Hüfte zu verschieben und das Prinzip “Rüber und Rauf” anzuwenden, wenn man stattdessen genügend Kraft in der Schulter hat. Dann drückt man sich nämlich nicht aus dem linken Bein, sondern aus der rechten Schulter nach oben.
Die Klettertechniken in Überhängen
Kommen wir nun zum Anforderungsprofil von Überhängen: Hier dominieren ganz andere Klettertechniken das Technikleitbild: das Entkoppeln (Trennung von Fußarbeit und Bewegungsausführung), die Hüftauslösung und das Deadpointen. Wenn man diese Techniken nur eingeschränkt beherrscht, kann überdimensionierte Kraft im Oberkörper diese Defizite kompensieren. Anstatt beide Füße vorbereitend hoch genug zu stellen, kann stattdessen ein Bein komplett hinterhergezogen werden, wodurch das Bein zum Ballast wird, anstatt sich aktiv an der Bewegung zu beteiligen. In gleichem Maße ersetzt der Campuszug die Hüftauslösung und das statische Blocken den Deadpoint.
Die Austauschbarkeit von Kletterskills
Mit zunehmender Steigung der Wände steigt auch die Austauschbarkeit von Fähigkeiten. So ist es für mich nicht verwunderlich, dass nur Routen die Auszeichnung von “hohem technischen Anspruch” erhalten, die eine rein technische Lösungen zulassen. Das heißt aber nicht, dass Bewegungen im steilen Gelände nicht auch technisch gelöst werden können. Alle kraftlosen Kletterer/innen, die eine Aversion gegen Klimmzugtraining hegen, kann ich insofern beruhigen, dass auch Kletterstellen im Überhang mit Technik gelöst werden können. Aufgrund eines Mangels an Oberkörperkraft braucht niemand Angst vor Überhängen haben. Es sind zwar andere Techniken, die erlernt werden müssen, aber überhängende Routen bieten die gleichen Möglichkeiten für technisch präzises und somit auch prozessorientiertes Klettern wie senkrechte oder plattige Routen. Wenn man sich mit den Zügen intensiv beschäftigt, die Hüftauslösung und das Deadpointen erlernt, dann wird man auch in diesen Routen enorme Fortschritte erzielen.
Doch ohne Fingerkraft geht nichts
Es gibt eine einzige Kraftart, auf die man einfach nicht verzichten kann: Die Fingerkraft. Um unsere Füße zu setzen und um die Bewegung zu führen, brauchen wir ein Mindestmaß an Fingerkraft. Fakt ist: Je höher der Grad, desto kleiner die Griffe und je steiler die Route, desto mehr hängen wir an den Fingern. Mit theoretisch unendlicher Fingerkraft könnten wir zu einem sehr sehr großen Teil auf jede andere Kraft verzichten, sogar die zweitwichtigste Kraft, die Körperspannung, verliere an Bedeutung. Weil wir mit viel Fingerkraft und einer guten Klettertechnik schon sehr viele Züge meistern können, sollte das Training in diesen beiden Bereichen ganz oben auf der Prioritätenliste jedes Kletterers und jeder Kletterin stehen.
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