Klettertechnik: Die richtige Spannung
- Birte Gutmayer
- 15. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 3 Tagen
Klettern und Bouldern als Wechselspiel zwischen An- und Entspannung verstehen

Wir atmen ein, wir atmen aus. Wir treiben Sport und ruhen uns aus. Wir reden und hören zu. Es scheint, als hätte jede Aktivität im Leben einen unerlässlichen Gegenspieler, wie Yin und Yang, Tag und Nacht, Aktion und Reaktion. Wenn so viele Dinge in unserem Leben auf Gegensätzlichkeiten beruhen, dann ist es doch nicht verwunderlich, dass es sich bei der Kletterbewegung genauso verhält. Jeder Zug ist ein Wechselspiel aus Anspannung und Entspannung.
Anspannung und Entspannung beim Klettern und Bouldern
Beim Klettern, wie auch beim Bouldern, müssen wir für jeden Zug unsere Muskeln anspannen. Je komplexer der Zug ist, desto mehr Muskeln sind an der Bewegung beteiligt (Intermuskuläre Koordination). Je schwerer der Zug ist, desto mehr Muskelfasern werden innerhalb eines Muskels aktiviert (Intramuskuläre Koordination). Wenn eine Route oder ein Boulder nicht gelingt, heißt es oft salopp: “Musst dich halt mal mehr anstrengen!”. Niemand würde wohl auf die Idee kommen zu sagen: “Entspann dich doch mal!”. Doch genau diese Entspannung könnte in dem einen oder anderen Fall zum Erfolg führen. Die Entspannung führt beim Klettern ein Schattendasein, da wir uns viel zu sehr mit dem Ziehen, Drücken, Anreißen und Dynamisieren beschäftigen, als mit dem Ausatmen, der Ruhe und dem Lockerlassen. Doch Anspannung und Entspannung sind zwei Gegenspieler, die genauso zusammen gehören wie Einatmen und Ausatmen. Um die Route oder den Boulder zu toppen, sollten wir nicht nur in der Lage sein, kräftig anzuziehen, sondern auch möglichst sparsam mit unserer Kraft umzugehen und die ausgegebene Kraft so oft und so lang wie möglich zurückzugewinnen. Wir müssen also zwei Dinge lernen:
Wir müssen lernen, für jeden Zug so wenig Kraft wie möglich auszugeben, denn wir wollen unsere Kraft nicht unnötig verschwenden.
Wir müssen lernen, uns zwischen den Zügen maximal zu entspannen, denn wir wollen zwischen den Zügen möglichst viel Energie zurückgewinnen.
Dabei gilt: Je kürzer und intensiver der Boulder ist, desto schwerer fällt uns die Entspannung und die Rückgewinnung von Energie. Doch auch in 5-Zug Problemen kann es darauf ankommen, eine Leiste nur mit 97 statt 100% unserer Kraft zu belasten, um den letzten Griff noch festhalten zu können. Auch Boulderer/innen fallen manchmal kurz vor dem Topp, weil ihnen die Kraft ausgegangen ist.
Hintergrund Klettertechnik
Die An- und Entspannung folgt immer im selben Schema ab, auch wenn beide Komponenten je nach Länge des Problems unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Bei der Kletterbewegung, wie auch bei jeder anderen azyklischen sportlichen Bewegung, gibt es eine Vorbereitungs-, eine Durchführungs- und eine Stabilisierungsphase. In der Vorbereitungsphase setzen wir unsere Füße um. In dieser Phase sind wir maximal entspannt, wenn möglich hängen wir am langen Arm. Wir sind so entspannt, wie es die Griffe und die Körperposition zulassen. Sobald die Füße an der richtigen Stelle stehen, ziehen wir so schnell wie möglich zum Zielgriff. Wir spannen uns also maximal schnell an, um die Phase der Anspannung möglichst kurz zu halten. Sobald wir den Zielgriff in der Hand haben, folgt ein kurzer Moment der Stabilisierung, bevor wir wieder locker lassen. Die Griffe halten wir nur so stark fest, dass wir nicht abrutschen und die Körperspannung halten wir gerade so stark, dass unsere Füße den Kontakt zur Wand halten. Nicht mehr und nicht weniger. Bei jedem Zug wollen wir uns minimal anstrengen und nach jedem Zug maximal entspannen. Nach diesem Prinzip kommt jeder, ob Boulderer/in oder Kletterer/in dem Rotpunkt etwas näher. Da die Ausprägung der Komponenten, Anspannung und Entspannung, bei beiden Disziplinen unterschiedlich ausgeprägt sind, können sie voneinander lernen:
Boulderer/innen sind die Meister der Anspannung
Was Kletterer/innen von Boulderer/innen lernen können, ist die Fähigkeit, alle Muskeln maximal zu aktivieren. Durch die extrem schweren Züge gönnen sie ihren Muskeln kaum Pause. Alle Muskeln, von der Fuß- bis zur Fingerspitze, müssen sich an der Bewegung beteiligen. Der Körper ist darauf getrimmt, sich maximal anzuspannen. Vor allem in Dächern würden Boulderer/innen sofort auf der Matte landen, wenn sie auch nur einen Hauch zu viel entspannen würden. Das ist auch der Grund, warum sich Boulderer vor dem Einstieg mental aktivieren, z.B. indem sie kräftig ausatmen oder die Arme kräftig nach unten schlagen. Boulderer/innen sind extrem committed; vom ersten bis zum letzten Zug.
Kletterer/innen sind die Meister der Entspannung
Was Boulderer/innen von Kletterer/innen lernen können, ist hingegen die Fähigkeit, möglichst vielen Muskeln eine Pause zu gönnen. Kletterer/innen möchten sich möglichst wenig anstrengen, weil sie wissen, dass sie noch lange durchhalten müssen. Dann bekommen möglichst viele Muskelfasern die Möglichkeit, sich zwischendurch zu regenerieren. ATP kann neu aufgebaut und Laktat abgebaut werden. Und das geht nur im entspannten Zustand. Beim Klettern kommt es vor allen Dingen darauf an, sich möglichst viel zu entspannen, um bis zum Umlenker durchhalten zu können. Das ist der Grund, warum Kletterer/innen etwas entspannter in ihre Routen einsteigen, lieber einmal tief durchatmen und langsam ausatmen und dabei die Arme einmal weit von sich strecken, um sie dann entspannt runterfallen zu lassen.
Der richtige Mix macht den Unterschied
Jeder Zug erfordert den idealen Spannungszustand. Wir wollen weder zu viel noch zu wenig Energie verbrauchen. Zu jeder Zeit müssen wir den richtigen Mix aus An- und Entspannung finden. Doch allzu häufig stelle ich fest, dass es uns, wie im restlichen Leben auch, schwer fällt, das richtige Maß zu finden. Boulderern und Bouldererinnen fällt es grundsätzlich schwerer sich zu entspannen. Sie machen aus jeder Route einen langen Boulder und wundern sich, dass sie vollkommen außer Atem und mit gepumpten Armen abfallen. Kletterern und Kletterinnen fällt es hingegen schwerer, sich maximal zu aktivieren und lassen sich leicht von extrem schwierigen Sequenzen abschrecken. Beide Gruppen können vom jeweils anderen Modus lernen und profitieren. Weder durch extreme Anspannung noch durch extreme Entspannung erreichen sie das Top, sondern nur im richtigen Verhältnis aus beiden Spannungszuständen. Um mit beiden flexibler umgehen zu können, empfehle ich folgende Übungen:
Übungen zum besseren An- oder Entspannen:
Wenn du Meister/in der Anspannung bist, solltest du folgende Übungen zur Entspannung in deinen Trainingsplan aufnehmen:
Atme nach jedem Zug kräftig aus und lasse deinen Körper dabei so weit wie möglich absinken. Gehe dabei in den langen Arm.
Boulder einen schweren Boulder so oft wie möglich hintereinander. Je weniger du dich anstrengst, desto häufiger kannst du ihn klettern.
Wenn du Meister/in der Entspannung bist, solltest du folgende Übungen zur Anspannung in deinen Trainingsplan aufnehmen:
Starte jede Bewegung am langen Arm und mache den Zug so schnell wie möglich.
Beschäftige dich circa 15-20 Minuten mit einem sehr schweren Boulder. Je mehr Muskeln und Muskelfasern du gleichzeitig aktivieren kannst, desto schwerer kannst du bouldern.
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