Die meist unterschätzte Klettertechnik
Woher der Impuls gegen die Schwerkraft kommen sollte

Ungenutztes Kraftpotential
Die angelernte Klettertechnik der meisten Kletterer und Kletterinnen beschränkt sich hauptsächlich auf den Einsatz der Muskulatur im Oberkörper. Die 3 bis 5-fach höhere Kraft, die aus den Beinen generiert werden könnte, bleibt leider oftmals ungenutzt. Die Beinmuskulatur (z. B. Quadrizeps und Gesäßmuskeln) ist deutlich größer und stärker als die vergleichsweise kleineren Muskeln in den Armen: Ihr Einsatz beim Klettern erfordert allerdings ein hohes Maß an Klettertechnik. Die Beine können mehr Gewicht tragen und liefern die nötige Kraft, um den Körper mehrmals hintereinander hochzudrücken. Die übermäßige Beanspruchung der Arme führt hingegen viel schneller zur Ermüdung. Selbst wenn wir täglich 100 Klimmzüge absolvieren würden, kämen die Arme noch lange nicht an die Kraft heran, die wir natürlicherweise aus den Beinen generieren können; nur aufgrund der Tatsache, dass wir sie tagtäglich beim Stehen, Laufen und Treppensteigen fordern.
Das Ziel jeder Klettertechnik
Jeder Aspekt der Klettertechnik, jede einzelne präzise ausgeführte Bewegung hat das Ziel, die schwachen Muskeln in den Armen zu schonen und die starken Muskeln in den Beinen bestmöglich zu nutzen. Je mehr wir uns beim Klettern auf unsere Arme verlassen, desto schneller sind wir erschöpft und je mehr Kraft wir aus den Beinen nutzen, desto länger bleiben wir an der Wand. Grundsätzlich gilt das Prinzip: Die Beine dienen der Aufwärtsbewegung und der Überwindung der Schwerkraft. Die Arme hingegen sollten in erster Linie dazu genutzt werden, den Körperschwerpunkt näher an die Wand heranzuziehen oder um ihn nach links oder nach rechts über ein Bein zu ziehen. Idealerweise arbeiten sie mehr horizontal als vertikal, indem sie den Körper entweder nach vorne oder seitwärts ziehen, selten aber nach oben. Es gibt nur sehr wenige Fälle, wie zum Beispiel Dachkanten, in denen der Mangel an Tritten einen Campuszug erfordern.
Die Sache mit dem Schwerpunkt
Im aufrechten Stand befindet sich unser Schwerpunkt knapp unterhalb des Bauchnabels. Wenn wir nun ein Körperteil bewegen, z.B. das rechte Bein nach rechts oben heben, verschiebt sich der Schwerpunkt in Richtung des bewegten Beins. Diesem Beispiel kommt das Schwungbein, auch “Pogo-Move” genannt, am nächsten, jedoch befinden sich normalerweise beide Füße und zu Beginn auch beide Hände fix an der Wand. Durch diese vier Ankerpunkte können wir unseren Körper im Raum bewegen. Der Schwerpunkt folgt der Summe aller Teilbewegungen. Je mehr Teilbewegungen nötig sind, desto komplexer wird die Bewegung und je schnellkräftiger sie ausgeführt wird, desto dynamischer wird sie. Dynamische Bewegungen erfordern eine möglichst schnelle und dennoch sehr präzise Kontrolle aller Körperteile. Diese Kontrolle sowie die Fähigkeit, den Schwerpunkt gezielt einzusetzen, ist entscheidend für Effizienz, Stabilität und Leistung in der Bewegung.
Die unersetzliche Klettertechnik
Wir müssen nun eine Möglichkeit finden, den Körperschwerpunkt nicht nur zu verschieben, sondern ihn auch circa einen halben Meter höher zu bringen, indem wir unsere Beinkraft bestmöglich einsetzen und unsere Arme möglichst schonen. Wenn wir die zuletzt genannte Bedingung ignorieren würden, wäre eine Lösung der Campusboard-Zug, bei dem die Kraft und der Schwung aus den Beinen eine untergeordnete Rolle spielen. Obwohl der Kraftverbrauch bei dieser Variante sehr hoch ist, ist sie die meist verwendete Technik, insbesondere in steilem Terrain. Die Alternative zu dieser oberkörperlastigen Lösung, ist den Fokus auf die Beine und die Hüfte zu legen. Ziel ist es, die Hüfte über ein oder über beide Beine zu ziehen, damit die Beine den Körperschwerpunkt nach oben schieben können und die Arme ihn nicht nach oben ziehen müssen. Es erfolgt also erst eine annähernd horizontale Kraftausübung mit Beinen und Armen an die Wand heran und danach eine möglichst vertikale Kraftausübung aus den Beinen, um die Schwerkraft zu überwinden. Die Hüftbewegung verläuft dabei immer in einem Bogen und niemals diagonal. In senkrechtem Gelände bewegt sie sich von links, nach rechts und nach oben oder von rechts, nach links und dann nach oben. Im Überhang bewegt sie sich zum Beispiel von hinten links, nach vorne rechts und dann nach oben oder nur von hinten, nach vorne, nach oben. Um dies möglich zu machen, ist darauf zu achten, dass jede Bewegung an den Fußspitzen beginnt und über die Beine und die Hüfte fortgesetzt wird. Die Schultern folgen der Hüfte, wodurch eine wellenartige Bewegung entsteht. Zum Schluss wird der Arm der Haltehand gebeugt und der Zielgriff gepackt.
Auf in neue Sphären
Die Hüfte ist der Mittelpunkt unseres Körpers. Um diese bestmöglich einsetzen zu können, müssen alle Muskeln unserer Beine, unserer Arme und unseres Rumpfes harmonisch zusammenarbeiten. Jede dynamische Kletterbewegung ist echte Teamarbeit und die muss geübt werden. Sobald alle Teammitglieder wissen, wann, wie stark und wohin sie ziehen müssen, entsteht eine fließende Bewegung mit echtem Flow-Charakter. Züge, die zuvor unmöglich erschienen, sind auf einmal möglich. Weit entfernte Griffe sind plötzlich erreichbar. Brutal kräftige Züge werden zu smoothen Bewegungen und ganze kräftezehrende Sequenzen gewinnen einen ganz neuen fließenden Charakter.
Die Crux der Hüftauslösung
Die oben beschriebene Hüftauslösung ist sehr komplex, da Zeitpunkt, Richtung und Intensität vieler Teilbewegungen von Beinen, Rumpf und Armen aufeinander abgestimmt werden müssen. Deshalb gibt es auch keine einfache oder schwere Lösung für einen Kletterzug, sondern nur eine kraftbetonte oder eine technische Lösung. Welche als einfach oder schwer wahrgenommen wird, liegt bei den Kletternden. Doch wer die maximale Schwierigkeit aus seiner vorhandenen Kraft herausholen möchte, dem sei geraten, Übungen für die Hüftauslösung genauso ins Klettertraining zu integrieren wie Übungen zum Kraftaufbau. Wie das am besten geht, erfahrt ihr im Blogbeitrag “Technik lernen”.
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