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Realitätencheck in "Alpenliebe"

Aktualisiert: 28. Aug.

Das 1. Mal an der Nordwand der Westlichen Zinne


Fränkischer Gräfix, Moschendorfer Wand, Fränkische Schweiz, Heelhook
Aufstieg zur westlichen Zinne

Fakten zur Route

Die Route befindet sich an der Nordwand der westlichen Zinne. Man überwindet mit 600 Klettermetern 500 Höhenmeter mit 3 Seillängen im 9. Grad. Davon bildet der 7c-Quergang oberhalb einer Dachkante verlaufend die Schlüsselseillänge. Bis zur 11. Seillänge bleibt die Route anhaltend im 8. Grad. Nur die letzten 6 Seillängen sind im 7. Grad, die aber weitestgehend selbst abzusichern sind und somit die Wegfindung wesentlich schwieriger wird. 


Wunschvorstellung 

Stefan, mein Seilpartner sollte die ersten 5 Seillängen im 8. Grad übernehmen und ich die darauf folgenden 6 Seillängen von 6c+ bis 7c. Die restlichen Seillängen wollten wir im Wechselmodus klettern. Meine 7c-Onsightquote beim Sportklettern liegt momentan bei etwa 75%. Deshalb habe ich davon geträumt beide 9- Seillängen zu onsighten oder zu flashen und mir den 9er Quergang anzuschauen und im zweiten Versuch zu rotpunkten.


Erste Seillänge bei Sonnenaufgang
Erste Seillänge bei Sonnenaufgang

Wunsch und Realität

Relativ schnell wurde klar, dass nicht nur eiskalte Hände und Füße, sondern auch die Zeit und das zügige Durchkommen die größten Challenges sind. Selbst wenn wir nur 45 Minuten für jede Seillänge bräuchten, wären wir 12,5 Stunden in der Wand plus 1 Stunde Zustieg, plus 1,5 Stunden Abstieg macht 15 Stunden von 5 Uhr morgens bis 20 Uhr abends. Wer schon einmal alpin unterwegs war, weiß, dass nie alles reibungsfrei abläuft. Beim Einklettern der ersten Seillängen am ersten Tag brauchten wir pro Seillänge eine ganze Stunde. Dies hieß, dass eigentlich keine Zeit blieb, um einen zweiten Versuch in der 7c zu machen. Denn ein unbekannter Abstieg im Dunkeln über den Normalweg wollten wir unbedingt vermeiden. Ein Sturz im Dachquergang hieße sich wieder hochprusiken zu müssen und sich wieder zurück zum Stand zu kämpfen. Das wäre zu zeitraubend. Deshalb war mein neues Ziel alle Stellen frei zu klettern und sich dabei so selten wie möglich ins Seil zu setzen.


Notbiwak 4 Seillängen vor dem Gipfel in Petri Heil
Notbiwak 4 Seillängen vor dem Gipfel in Petri Heil

Realitätencheck

Wir starteten morgens um 5 Uhr. Bis zur 15. von 17 Seillänge lief tatsächlich alles nach Plan. Wir konnten alle Seillängen frei klettern, kamen gut durch und waren optimistisch. Doch die 15. Seillänge, mit 6a+ bewertet, war brüchiger als der Rest und die zwei Normalhaken blieben uns verborgen. Die Kombination aus mentaler und physischer Anstrengung, schwieriger Wegfindung und mangelnde Felsqualität ließ mich verzweifeln. An einer Sanduhr ließ mich Stefan zurück zum Band ab. Auf diesem querte er nach links, um in "Petri Heil", eine gut abgesicherte Nachbartour zu gelangen, was leider misslang. WIr seilten zwei 40-Meter Seillängen ab und querten auf einem breiteren Band nach links in Petri Heil. Die ganze Aktion kostete viel Zeit und um circa 19 Uhr standen uns noch 8 Seillängen im 6. und 7. Grad bevor. Unmöglich! Immerhin: Wir waren uns sicher, wo wir sind, dass wir hochkommen und dass es nur eine Frage der Zeit ist. Nach vier Seillängen um 21:30 erreichten wir bei Einbruch der Dunkelheit ein schmales Band, das uns die Möglichkeit bot, zu biwakieren. Am nächsten Tag starteten wir um 6 Uhr morgens. Die restlichen vier Seillängen konnten wir fast genießen. Der Abstieg dauerte 1 Stunde länger und um 11:30 erreichten wir mit wackligen Beinen die touristische Wander-Autobahn, die uns zurück zum Auto führte. 


Viele erste Male

Das war die sachliche Schilderung. Ich habe noch nie so viele erste Male in so kurzer Zeit erlebt. Deshalb wird es mir lange in Erinnerung bleiben. Um das Projekt etwas persönlicher und emotionaler zu beschreiben, kommt hier eine Auflistung der einzigartigen Momente:


  • Noch nie zuvor habe ich die Zinnen gesehen, geschweige denn beklettert.

  • Ich war noch nie so lange an der Wand: 27 Stunden

  • Ich war noch nie so lange unterwegs: 31 Stunden

  • Ich bin noch nie so früh losgeklettert: gleich zwei Mal um 6 Uhr in der Früh: Weit entfernt von guten Bedingungen.

  • Ich bin noch nie so schwer im alpinen Gelände geklettert und auch noch nie so hoch  

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  • Ich bin noch nie einen so ausgesetzten neuner geklettert

  • Ich bin noch nie 23 Seillängen am Stück geklettert

  • Ich bin seit 20 Jahren nicht mehr mit Socken in den Schuhe geklettert

  • Ich hatte noch nie Socken mit Pizza-Bildern an.

  • Ich bin noch nie dauerhaft mit Daunenjacke geklettert.

  • Ich hatte noch nie so viel Durst, wie beim Abstieg.

  • Ich hatte noch nie zuvor ein so großes Kaloriendefizit.

  • Ich war noch nie so froh über ein einziges Balisto zum Frühstück 

  • Ich habe noch nie zuvor in der Wand biwakiert



  • Ich war noch nie zuvor so sauer auf Stefan, weil er mir ein Balistoriegel vorenthalten hat, aber so froh, dass er sein Snickers mit mir teilte. 

  • Ich war noch nie so froh, einen so alpin erfahrenen, ruhig bleibenden und gut vorbereiteten Kletterpartner zu haben, der uns im 2. Anlauf souverän in die Nachbarroute navigierte, als meine Nerven blank lagen.

  • Mir war noch nie so lange so kalt in der Nacht.

  • Ich habe noch nie so lange an einem Stück gezittert und vielleicht auch noch nie keine einzige Minute geschlafen.

  • Ich habe noch nie zuvor den Sonnenaufgang so herbeigewünscht wie in dieser Nacht.

  • Ich war vielleicht noch nie so enttäuscht, gerade an diesem Morgen keine Sonne zu sehen, sondern nur Nebelschwaden.

  • Ich war noch nie zuvor so lange am Stück auf ein Ziel fokussiert und noch nie so fasziniert, wie lange Körper und Geist funktionieren können.

  • Ich war noch nie so lange voll im Moment ohne an die Zukunft oder an die Vergangenheit zu denken.


Aufgrund dieser vielen ersten Male habe ich noch nie so intensiv gelebt wie in diesen 31 Stunden und genau deshalb kribbelt es am nächsten Tag schon wieder in meinen Fingern, der Alpenliebe doch noch eine Rotpunktbegehung abzuringen. 



 
 
 

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